Interview

"Ich halte das für eine Katastrophe"

Interview
10.07.2024

Aktualisiert am 19.07.2024
Der Filmemacher Reinhard Seiß übt Kritik an der Bau- und Immobilienwirtschaft. Seiß, Mitglied des Baukulturbeirats der Österreichischen Bundesregierung, glaubt nicht, dass Österreich die eigenen Klimaziele erreichen wird.
Filmemacher und Autor Reinhard Seiß

Herr Seiß, Sie setzten sich stark für die Schaffung von lebenswerten urbanen Räumen ein. Wie beurteilen Sie die Bemühungen der heimischen Bau- und Immobilienwirtschaft zum Thema Nachhaltigkeit. Anders gefragt: Wie grün ist der Bau?
Reinhard Seiß:
Dazu habe ich eine klare Meinung. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie den Leser*innen einer Bauzeitung gefallen wird.

Die Möglichkeit besteht tatsächlich. Aber wir verstehen uns als Plattform für den Bau. Dazu gehört auch, dass wir kritischen Stimmen Raum geben. Legen Sie ruhig los. 
Seiß:
Gern! Das Bauen hat in Österreich in den vergangenen Jahrzehnten keine großen Fortschritte gemacht. Das gilt zum Beispiel für die verwendeten Baumaterialien. So wird beim Bau von Einfamilienhäusern und im geförderten Wohnbau immer noch Styropor an die Fassade geklebt. Ein anderes Beispiel betrifft die Klimatauglichkeit. Es entstehen nach wie vor Bürobauten, die schon im Mai eine Klimaanlage benötigen und nicht erst im Juli. Das ist so, weil Bauherr*innen und Architekt*innen darauf pfeifen, dass man auch anders bauen könnte. Ich halte das für eine Katastrophe.

Auf Verdacht Bürotürme hochziehen

Gehen Sie damit nicht zu weit? Bauwirtschaft und Baustoffhersteller unternehmen große Anstrengungen, um ihren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Ich denke da zum Beispiel an die Zementindustrie. Sie will bis 2050 CO2-neutral werden.
Seiß: Ja, ich sehe, dass die Zementindustrie etwas tut. Aber warum?  Weil sie als große CO2-Emittentin in den Fokus der NGOs geraten ist. Sie muss handeln – mit Blick auf die Klimazertifikate und auf ihr Image. Aber das ist die Ausnahme und nicht die Regel. Andere Branchen sind von der Kritik völlig ausgenommen.

An wen denken Sie da?
Seiß:
Ich denke zum Beispiel an die Immobilieninvestoren, die auf Verdacht Bürotürme hochziehen – egal mit welchen Materialien, egal an welchen Standorten, egal wieviel Verkehr sie damit induzieren. Es entstehen nach wie vor hochgradig technologieabhängige Gebäude. Um nachhaltige Ansätze wie natürliche Kühlung oder Trennung von Brauchwasser und Trinkwasser schert sich da niemand. Wir reden seit Jahrzehnten darüber. Getan hat sich nichts.

„Nichts“ ist ein starkes Wort.
Seiß:
Sie können auch gerne „wenig“ sagen. Es ist wie beim Verkehr: Es gibt viele Ankündigungen. Aber in der Realität bleibt es meistens beim Greenwashing. Wir bauen immer noch an den falschen Standorten, wo wir Verkehr erregen und Monostrukturen schaffen, die keine urbane Qualität erzeugen. Damit wird die Ödnis unserer Stadtentwicklung fortgeschrieben.

Sie spielen damit auf das Thema „Zersiedlung“ an?
Seiß:
Auch. Es geht um Suburbanisierung, Zersiedlung und den verantwortungslosen Umgang mit der wertvollen Ressource Boden. Jedes eingeschossige Gebäude ist eine Themenverfehlung. Zudem bauen wir an den falschen Orten: Auf den landwirtschaftlich ertragreichsten Böden entstehen Gewerbegebiete! Es ist bezeichnend für das Versagen unserer Politik, dass sich die Länder gegen die Initiative der Bundesregierung gestellt haben, den Bodenverbrauch quantitativ zu begrenzen. Die Kluft zwischen dem, was wir tun müssten, und dem, was wir tun, war noch nie so groß wie heute.

Sie sprechen die Politik an. Wie beurteilen Sie die Chancen, dass Österreich die Pariser Klimaziele erreicht und bis 2050 CO2-neutral wird? Die Regierung hat sich selbst ja sogar 2040 als Ziel gesetzt.
Seiß:
Österreich hat eine Tradition darin, internationale Ziele per Ankündigung zu überbieten, aber bei der Umsetzung dann sogar die ursprünglichen Ziele zu verfehlen. Ich halte es nicht für realistisch, dass wir die Klimaziele bis 2050 erreichen – bis 2040 schon gar nicht. Das gilt für Österreich als Gesamtheit ebenso wie für die Bauwirtschaft.

Warum sind Sie so skeptisch?
Seiß:
Ein sehr ambitionierter Wiener Architekt hat vor kurzem eine möglichst nachhaltige Siedlung realisiert – ein echter Öko-Bau, bei dem die Ummantelung der Stromdrähte wohl das einzige aus Plastik ist. Aber er sagt: Selbst, wenn wir bis 2050 nur mehr auf diesem Niveau bauen, würden wir die Klimaziele nicht erreichen. Warum? Weil wir einfach zu viel neu bauen.

Aber was ist die Alternative? Die Menschen müssen irgendwo wohnen. In den vergangenen zehn Jahren ist die Bevölkerung in Österreich von acht auf neuen Millionen gewachsen. Wohin mit ihnen?
Seiß:
Die Bevölkerung ist nicht das Einzige, was gewachsen ist. Für Deutschland zeigen aktuelle Statistiken, dass die Wohnfläche pro Kopf in den vergangenen 30 Jahren um 37 Prozent auf rund 48 m² gestiegen ist. In Österreich dürften die Zahlen ähnlich sein. Das ist eine fatale Entwicklung. Wenn wir den Klimaschutz ernst meinen, müssen wir über Kapazitätsgrenzen nachdenken. Im Wohnbau, aber noch mehr im Gewerbe- oder Tiefbau.

Was meine Sie damit?
Seiß:
In vielen Bereichen ist das längst üblich: Wenn Sie für Ihre Kinder an einem guten Gymnasium keinen Platz mehr bekommen, baut man dort auch kein Klassenzimmer an. Auf ein neues Hüftgelenk müssen sie lange warten, niemand errichtet für Sie einen neuen OP-Saal. Im Bereich Verkehr und Bauen ist das anders: Wenn irgendwo ein Stau droht, wird die Straße verbreitert. Und wenn ein Unternehmen eine Betriebsansiedlung plant, wird ihm fast jeder Wunsch erfüllt. Kaum jemand kommt auf die Idee, Vorgaben zu machen – wie etwa: Du baust bitte dreigeschossig. Es gibt keine ebenerdigen Parkplätze. Du entwickelts ein Mobilitätskonzept, damit deine Mitarbeiter*innen nicht alle mit dem Auto zur Arbeit kommen. Und du baust keine bessere Wellblechhütte, sondern nachhaltige Architektur.

Aber was ist mit dem Argument der Arbeitsplätze? Die Bauwirtschaft ist ein sehr wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Seiß:
Das ist ein schwaches Argument – und zwar, weil es zu kurz gedacht ist. Es bringt nichts, rein auf die Umsatzzahlen zu schauen. Entscheidend ist, welcher Mehrwert für die Gesellschaft erbracht wird. Was hat der Staat davon, wenn einige Konzerne Unsummen durch neue Straßen verdienen? Die Pflasterung einer Fußgängerzone schafft viel mehr Arbeitsplätze pro investierten Euro als der Bau einer Autobahn. Auch die Wohnbaumilliarde der Regierung geht in die falsche Richtung: Ja zur Förderung von Umbau und Sanierung nach strengen Nachhaltigkeitskriterien – nein zur Förderung des industriellen Neubaus.

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